Forderungen an die hessische Landesregierung
Die Morde von Hanau und an Walter Lübcke machen Hessen zu einem Hotspot rassistischer und rechtsextremer Anschläge. Die Verbrechen des NSU sind bis heute nicht vollständig aufgearbeitet, und die aktuelle Serie von Bedrohungen durch die Gruppe „NSU 2.0“ weist erneut auf rechtsextreme Netzwerke in den Landesbehörden hin. Bei den Rechtsextremismus-Verdachtsfällen in der Polizei liegt Hessen im Vergleich der Bundesländer weit vorn. All dies offenbart ein eklatantes Versagen der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden.
Die Landesregierung ist mehr denn je gefordert, Bewegungen für Menschenrechte zu stärken und allen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschieden entgegenzutreten. Dazu gehören Diskriminierung, gewalttätige Angriffe, Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus, Antiziganismus, Sexismus, Antifeminismus und Feindlichkeit gegenüber LGBTIQ*.
Die Unterzeichnenden dieses Forderungspapiers begreifen Vielfalt als Gewinn für die Gesellschaft und stehen ein für ein modernes Integrationsverständnis: Integration bedeutet nicht Assimilation und ist keine „Einbahnstraße“, sondern stellt ebenso auch Anforderungen an die sogenannte Mehrheitsgesellschaft.
Vor diesem Hintergrund formulieren wir folgende zehn Forderungen an die hessische Landesregierung:
1. Rechtsextreme Gruppen und Netzwerke auflösen
Rechtsextreme Gruppen müssen entwaffnet und offene Haftbefehle gegen rechtsextreme Täter*innen vollstreckt werden. Diese Gruppen müssen verboten werden, und zwar ohne Vorankündigung, da sie ansonsten Zeit haben, Beweise zu beseitigen. Wir fordern eine umfassende Aufklärung der Taten des NSU und die Rolle des Verfassungsschutzes in seinem Umfeld sowie eine Freigabe aller NSU-Akten. Hessen muss sich weiterhin für eine Verschärfung des Waffenrechts auf Bundesebene einsetzen und für seine konsequente Umsetzung in den hessischen Kommunen sorgen.
2. Verfassungsschutz und Polizei reformieren
Es braucht einen Wandel der Organisationskultur, um strukturellen Rassismus und Rechtsextremismus in Verfassungsschutz und Polizei zu bekämpfen. Der Korpsgeist, der Fehlverhalten von Kolleg*innen deckt und Aufklärung verhindert, muss gebrochen werden. Alle Beschäftigten von Verfassungsschutz und Polizei müssen effektiver überprüft und gegebenenfalls ausgetauscht, rechtsextreme Netzwerke in der Polizei konsequent aufgedeckt und entsprechende Umtriebe mit dienstlichen Konsequenzen geahndet werden. Die Praxis des Racial Profiling darf nicht länger geleugnet und kleingeredet werden, sondern muss aufgedeckt und gestoppt werden. Dafür sollte auf Landesebene unter anderem eine Studie durchgeführt werden.
3. Unabhängiges Expert*innengremium einrichten
Ein unabhängiges Expert*innengremium muss die Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus und Diskriminierung begleiten, steuern und evaluieren.
In diesem Gremium sollten Wissenschaft sowie staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure, Wohlfahrtsverbände und Betroffenen-Vertretungen gleichermaßen vertreten sein. Es soll bestehende Strategien, Landesprogramme und Maßnahmen kritisch reflektieren und Studien beauftragen, etwa qualitative Erhebungen zu strukturellen Rassismen und Diskriminierungen im staatlichen Handeln von Ämtern, Behörden und Schulen sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
4. Repräsentanz aller gesellschaftlicher Gruppen fördern
In allen Sphären des gesellschaftlichen und politischen Lebens und in leitenden Funktionen der Verwaltung sollte die Vielfalt Hessens adäquat repräsentiert sein, unter anderem muss die Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung, People of Color (PoC), Schwarzen Menschen, Angehörigen aller Religionsgemeinschaften sowie von Sinti und Roma aktiv gefördert werden. Dafür braucht es ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren für alle Landesbehörden, die Polizei und den Schuldienst.
5. Demokratiebewusstsein im öffentlichen Dienst stärken
Mitarbeiter*innen der Landesbehörden, besonders der Polizei und der Schulen, müssen nicht nur obligatorisch und intensiver zu den Werten des Grundgesetzes geschult und fortgebildet werden. Es braucht vor allem eine vertiefte Auseinandersetzung mit Wirkweisen von Diskriminierung, Rassismus und allen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und die Entwicklung von Umgangsstrategien damit. Im öffentlichen Dienst soll dies ergänzt werden um eine Selbstverpflichtungserklärung gegen Rassismus und Rechtsextremismus für alle Mitarbeitenden sowie mit einem Leitfaden für Respekt und Vielfalt.
6. Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung gesetzlich verankern
Ein hessisches Antidiskriminierungsgesetz soll Lücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auf Bundesebene wirksam schließen. Es soll Schulen und Behörden umfassen und Beschwerdestellen für rassistische und rechtsextreme Vorfälle in diesen Bereichen sowie ein Verbandsklagerecht enthalten. Darin festgeschrieben werden soll, dass es den Behörden obliegt, Verstöße gegen das Antidiskriminierungsverbot zu widerlegen, wenn solche glaubhaft geschildert werden. In der hessischen Verfassung soll Anti-Rassismus als Staatsziel eingeführt werden.
7. Unabhängige Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten
Es bedarf einer eigenständigen Stelle für die Aufklärung menschenrechtswidriger Übergriffe und Versäumnisse durch die Polizei. Die Beschwerdestelle muss mit ausreichenden Ressourcen und Befugnissen wie einem Akteneinsichtsrecht ausgestattet sein. Zum Ermittlungspersonal sollten auch Mitarbeitende ohne polizeiliche Ausbildung und Vorbeschäftigung gehören, um die Vielfalt der Ermittlungsperspektiven zu garantieren. Der Zugang für Betroffene und Zeugen von Übergriffen durch die Polizei muss niedrigschwellig, barrierearm und mehrsprachig sein.
Die Beschwerdestelle soll auch Anlaufstelle für Polizist*innen sein, die kritisches Verhalten von Kolleg*innen melden möchten. Sie sollte eine Statistik führen und regelmäßig öffentlich Bericht erstatten.
8. Opfer von Gewalt unterstützen, gefährdete Einrichtungen schützen
Von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Betroffene sollten schnelle und angemessene Hilfe erhalten, Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus, die Opfer von rassistischer Gewalt werden, ein dauerhaftes Bleiberecht. Zivilgesellschaftliche Unterstützungs- und Beratungsstrukturen für die Betroffenen müssen gestärkt und verstetigt werden. Es braucht polizeilichen Schutz für Orte wie Moscheen und Synagogen, für die eine erhöhte Gefahr besteht, Ziel von Gewalttaten zu werden.
9. Schulen als Orte der Wertevermittlung
Schulen sollen zur umfassenden Bildung und Werteorientierung für ein antirassistisches und solidarisches Zusammenleben in unserer Gesellschaft beitragen. Die Lehrpläne, Materialien, Ausstattung, Räumlichkeiten, die Ausbildung und Qualifizierung der Lehrkräfte und des weiteren Personals müssen auf dieses Ziel ausgerichtet werden. Demokratiebildung und Medienkompetenz sind als fächerübergreifende Querschnittsthemen zu etablieren, damit Schüler*innen lernen, Fake News von seriösen Nachrichten zu unterscheiden und Hass und Rassismus in den Sozialen Medien erkennen. In den Schulen braucht es Angebote und geschützte Räume, um von Rassismus Betroffene zu unterstützen und Schüler*innen, Lehrkräfte, pädagogisches Personal und Verwaltungspersonal beraten zu können. Die Auseinandersetzung mit Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus und rechten Ideologien muss fester Bestandteil in allen Bereichen des Bildungssektors und der Jugendsozialarbeit werden. Das deutsche Bildungssystem ist sozial undurchlässig und bietet sozial benachteiligten, bildungsfernen und migrantischen Bevölkerungsgruppen schlechte Chancen. Hier muss die Landesregierung aktiv gegensteuern.
10. Demokratieprojekte ausreichend und dauerhaft fördern
Wenn es um die Förderung von Demokratieprojekten geht, muss das geforderte unabhängige Expert*innengremium zur Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus und Diskriminierung einbezogen werden. Das Steuerprivileg „Gemeinnützigkeit“ muss auch Vereinen zustehen, die demokratische politische Arbeit leisten. Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildungsarbeit zur gezielten Antirassismus- und Antidiskriminierungsarbeit sowie zur Interkulturellen Öffnung muss ausreichend und nachhaltig gefördert, Initiativen der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus und Rassismus müssen gestärkt werden. Auch erforderlich ist der Schutz, Erhalt und die Neuschaffung von Lernorten über nationalsozialistische, rassistische und (post)koloniale Verbrechen. Alle Projekte der hessischen Landesregierung zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus sollen in einer ressortübergreifenden Stabsstelle gebündelt werden.
28. September 2020
Herausgebende Organisationen:
agah – Landesausländerbeirat Aufstehen gegen Rassismus Bildungsstätte Anne-Frank Der Paritätische Wohlfahrtsverband Hessen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Landesverband Hessen Hessischer Flüchtlingsrat LAG Mädchen*politik LandesFrauenRat Hessen NaturFreunde Hessen Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V Verband Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Hessen, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) – Landesvereinigung Hessen, Zentralrat der Muslime in Deutschland – Landesverband Hessen
Unterzeichnende Organisationen:
Arbeit und Bildung e.V., Attac Frankfurt, beramí berufliche Integration e.V.,
Bund deutscher Pfadfinder*innen - Stadtverband Frankfurt,
Bündnis "Main-Taunus - Deine Stimme gegen Rechts", Club Voltaire, DIDF Frankfurt,
FIPS - Frankfurter Institut für Personenzentrierte Sozialpädagogik und Sozialpolitik,
Förderverein Roma, Frankfurter Jugendring,
Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen, Frauennotrufe Hessen,
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Main-Taunus-Kreis,
KunstGesellschaft e.V., LIBS e.V. (Lesben Informations- und Beratungsstelle),
Mütterzentrum Langen e. V., NaturFreunde Frankfurt, Naturfreundejugend Hessen,
Omas gegen Rechts Frankfurt, pro familia Landesverband Hessen e.V.,
Seebrücke Frankfurt, ver.di Jugend Hessen,
Wilde Rose e.V. - Interkulturelles Jugendnetzwerk,
Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau